Agil oder klassisch – das ist hier die Frage
16.6.2020 von Silke Krischke 2 KommentareWie Cynefin und Stacey helfen, sich für die richtige Vorgehensweise in Veränderungsprojekten zu entscheiden
Nicht erst seit die Welt durch einen Virus aus den Fugen geraten ist, wurde vielen verdeutlicht, dass die uns bekannten klassischen Vorgehensmodelle für den Umgang mit Unsicherheiten und Neuem, für die Abwicklung von Projekten oder die Gestaltung von Veränderungen an ihre Grenzen stoßen. Gerade ungewisse, hochdynamische und unbekannte Herausforderungen bedürfen eines Vorgehens, das sich von den bekannten Modellen unterscheidet. Und doch… selbst wenn agile Arbeitsweisen für eine Vielzahl von Projekten oder Change-Initiativen ein effektives Framework sind, so ist es dennoch wichtig zu erkennen, dass Scrum oder Design Thinking nicht die Allheilmittel für alle Probleme und Veränderungsinitiativen sind.
Cynefin Framework – Modell zur Förderung des Verständnisses von „Lebensräumen“
Ein Modell, das unter dem Begriff Cynefin Framework (Aussprache „Kü-ne-win“, walisisch für „Lebensraum“ oder „Ort der Zugehörigkeit“) bekannt ist, hilft Probleme, Situationen und Systeme zu verstehen. Das Cynefin Modell wurde vom walisischen Wissenschaftler Dave Snowden erarbeitet. Es unterscheidet fünf Entscheidungsräume oder Regionen:
- Einfach / offensichtlich
- Kompliziert
- Komplex
- Chaotisch
- Ungewissheit / Nicht-Wissen
Das Cynefin Framework will Führungskräften, Projektteams und Menschen helfen, ein besseres Verständnis der Situation zu erhalten, mit der man konfrontiert wird. Dabei fließen vielfältige Aspekte ein, die das Verhalten von Menschen ebenso berücksichtigen wie ein Verständnis für Systemdynamiken sowie Elemente der Komplexitäts- und Lerntheorie.
Was verbirgt sich hinter den fünf Entscheidungsräumen?
1. Einfach / offensichtlich
Hier befinden wir uns in einem geordneten System. Es gibt eine offensichtliche und für jeden klare Beziehung von Ursache und Wirkung. Selbst ohne Expertenwissen lassen sich Entscheidungen herbeiführen. Routinen und Workflows sind vorhanden und etabliert.
Beispiel: Nach der Einführung eines neuen Wissensmanagementsystems sollen sukzessive im Unternehmen verteilte Projektinformationen integriert werden. In einem Ablauf wurde das Vorgehen beschrieben und im System entsprechende Vorlagen hinterlegt.
2. Kompliziert
Komplizierte Szenarien werden meist von Experten dominiert. Die Bewältigung der Herausforderung bietet unterschiedliche Möglichkeiten. Experten nutzen ihr Wissen und ihre Erfahrungen, für eine effiziente Analyse von Ursachen und Wirkungen.
Beispiel: Der Kunde beauftragt seinen Lieferanten zur Herstellung neuer Produkte auf der Grundlage der im Unternehmen eingesetzten Technologien. Im interdisziplinären Team werden Risikoanalysen genutzt, um Fehlermöglichkeiten zu identifizieren, zu analysieren und mit Präventions- und Abstellmaßnahmen zu reagieren.
3. Komplex
In komplexen Problemen erkennen wir, dass es mehr unvorhersehbare Ergebnisse gibt. Die Beziehungen von Ursachen und Wirkungen lassen sich meist erst im Rückblick erkennen. Aus diesem Grund ist es erforderlich, das zugrundeliegende Problem so gut wie möglich zu erforschen, mit Interventionen die Wirkung zu testen und aus dem Erlebten und Wahrgenommenen für die nächsten Schritte zu lernen.
Beispiel: Wir wollen ein neues Zusammenarbeitsmodell in einer Organisation einführen. Die Anforderungen an die Zusammenarbeit kann von Team zu Team unterschiedlich sein. Es ist daher von Bedeutung, zunächst zu verstehen, was „neue Zusammenarbeit“ für die Akteure bedeutet. Wie wollen diese zusammenarbeiten? Was soll sich ändern? Durch Vereinbarungen zwischen den Akteuren lässt sich die Unklarheit reduzieren. Die Zukunft wird gestaltbar.
4. Chaotisch
In chaotischen Situationen finden sich keine Beziehungen von Ursachen und Wirkungen. Diese Szenarien erfordern umgehendes und neuartiges Handeln. Krisensituationen, wie die Corona-Pandemie, sind Beispiele für chaotische Lebensräume. Sie erfordern schnelle Entscheidungen, um weiteren Schaden abzuwenden.
Beispiel: Nicht nur der Ausbruch einer Pandemie sondern auch Fragen im Hinblick auf die Entwicklung der Märkte lassen sich dem chaotischen Lebensraum nach Cynefin zuordnen. Noch immer besteht Unklarheit darüber, wie sich die Märkte z.B. in den Bereichen von Gastronomie und Veranstaltungen, in der Automobilbranche und selbst in der IT durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz entwickeln werden. Organisationen wissen, dass sie sich für die Zukunft wappnen müssen, können jedoch nur darüber spekulieren, wie sich der Markt entwickeln wird, welche Problemlösungen dann möglich sind und welche Anforderungen die Kunden stellen werden. In diesen Situationen ist nur ein scheinbares Sich-Durchwursteln und Starten von Versuchsballons, also agieren und reagieren möglich – bis man eine gewisse Klarheit gewonnen hat und aus der chaotischen Entscheidungssituation zunächst eine komplexe und dann eventuell eine komplizierte geworden ist.
5. Ungewissheit / Nicht-Wissen
Ungewisse Situationen beschreiben Situationen, in denen Unsicherheit darüber herrscht, in welchem „Lebensraum“ man sich befindet, welche Pläne funktionieren oder auch nicht. Gefahr droht, wenn diese Situationen nicht umgehend abgewendet werden. Hierfür ist es hilfreich, die Probleme in Einzelteile zu zerlegen und zu überlegen, welchen Entscheidungsräumen diese zugeordnet und mit welchen Vorgehensweisen sie gelöst werden können.
Das Verständnis des Cynefin Frameworks in Veränderungsprojekten nutzen
„Wir müssen agiler werden!“ Mit diesem Satz leitete ich meinen letzten Blog-Beitrag „3+7 Erfolgsfaktoren für agiles Arbeiten“ ein. Agilität und agiles Arbeiten erscheinen wie die Wunderwaffen, um die Herausforderungen der Arbeitswelt zu bewältigen. Doch so mancher stellt schon bald fest, dass diese Waffen keine Wunder vollbringen. Agile Projekte scheitern oder verfehlen die Ziele. Das Verständnis des Cynefin Frameworks hilft Führungskräften und Projektverantwortlichen, gute Vorgehensweisen in Veränderungsprojekten anzuwenden, damit sie ihre volle Wirkung entfalten können.
Mit der Stacey-Matrix zum richtigen Vorgehen
Ralph Douglas Stacey, ein britischer Professor für Management, der sich mit Organisationstheorien und komplexen Systemen befasst, nutzt mit seiner Stacey-Matrix einen dem Cynefin Framework vergleichbaren Ansatz. Die Stacey-Matrix hilft uns, für den jeweiligen Kontext die richtige Strategie zu wählen – in Abhängigkeit der folgenden Faktoren:
- Wie klar oder unklar sind die Ziele und Anforderungen an das Veränderungsprojekt? Was soll erreicht werden?
- Wie kann das Ziel erreicht werden? Ist das Vorgehen und/oder die einzusetzende Technologie bekannt oder unbekannt?
Je nachdem, in welchen „Lebensräumen“ wir uns befinden, fällt die Beantwortung dieser Fragen anders aus:
1. Einfache Situationen
Einfach sind Situationen dann, wenn sowohl die Anforderungen klar als auch die Vorgehensweisen zur Zielerreichung bekannt sind. Für die Bewältigung derartiger Situationen eignen sich klassische Standardprozesse. In der Regel kann auf Projektmanagement-Methoden verzichtet werden.
2. Komplizierte Situationen
Veränderungen sind dann kompliziert, wenn bei den Anforderungen und/oder beim Weg zur Lösung Unklarheit herrscht. In komplizierten Projekten erreicht man mit klassischen Projektmanagement- oder Lean-Ansätzen meist sehr gute Ergebnisse. Dabei ist es wichtig, die Ausprägung der beiden Faktoren zu berücksichtigen:
- Bestehen Unklarheiten in Bezug auf die Ziele und Anforderungen, ist eine enge Zusammenarbeit mit den Stakeholdern von zentraler Bedeutung, um die Willensbildung und Entscheidungsprozesse im Blick zu behalten
- Bestehen Unklarheiten in Bezug auf das Vorgehen oder die Technologie, helfen Experten, um aus mehreren Alternativen (good practice) den für diese Veränderung besten Lösungsweg zu finden
3. Komplexe Situationen
Wenn die Anforderungen sehr unklar sind oder sich häufig ändern oder wenn das Vorgehen unklar und/oder nicht vorhersehbar ist, befindet sich das Projekt in einem komplexen Umfeld. Der Versuch, derartig dynamische, sich ständig im Wandel befindliche Situationen mit einem zu Beginn erstellten Plan zum Ziel zu führen, wird nicht von Erfolg sein. Viel wichtiger ist es, in derartigen Situationen schrittweise – also iterativ – vorzugehen, um sich dem Ziel anzunähern. Auf diese Weise können erwünschte Ergebnisse weiterverfolgt, Fehlentwicklungen frühzeitig korrigiert und sukzessive mehr Klarheit im Hinblick auf die Anforderungen gewonnen werden. In komplexen Systemen sind daher agile Vorgehensweisen, z.B. Scrum, sehr vielversprechend.
4. Chaotische Situationen
Und welche Vorgehensweise eignet sich für neuartige Situationen, für Kontexte, in denen weder Ziele und Anforderungen klar noch Vorgehensweisen und Technologien bekannt sind? Chaotische Situationen erfordern ein beherztes Handeln, um das „Was“ und/oder das „Wie“ klarer werden zu lassen. Die Ideen von Lean Startup und Design Thinking greifen diese Rahmenbedingungen auf und ermutigen zum Experimentieren mit schnellem Feedback und erneutem Anpassen des Vorgehens in iterativen Schleifen.
Erfolgversprechende Vorgehensweisen in Veränderungsprojekten berücksichtigen immer die Situation
Auch wenn in den vergangenen Jahren bei vielen der Eindruck entstanden ist, dass agilen Vorgehensweisen der Vorzug zu geben sei und dass klassische Ansätze der Vergangenheit angehören, so stellt man bei genauer Betrachtung fest, dass je nach Problem und Situation unterschiedliche Vorgehen Erfolg versprechen. Aus diesem Grund nutze ich die Auftragsklärung bei Projektanfragen auch immer zur Klärung der folgenden Fragen:
- Sind die Anforderungen/Ziele klar?
- Kennen wir den Weg zum Ziel?
- Wie stabil bzw. wie dynamisch ist das Umfeld?
Diese Erkenntnisse finden bei der Gestaltung der Vorgehensweise in Veränderungsprojekten Berücksichtigung.
Das Cynefin Framework erklärt von Dave Snowden auf Youtube.