Henne oder Ei? – Von Individualisierung und Komplexität

17.3.2022 von Silke Krischke

Schafft Individualisierung Komplexität? Oder schafft Komplexität Individualisierung?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Arbeitskreis Change Management des VDI (Bezirksverein Schwarzwald). Spannend, dachte ich und schon bereitete ich das Thema für einen Impulsvortrag auf.

  • Schafft Individualisierung Komplexität?
  • Oder schafft Komplexität Individualisierung?
  • Was war zuerst: Komplexität oder Individualisierung? Henne oder Ei? Ei oder Henne?
  • Was ist Individualisierung?
  • Was ist Komplexität?
  • Wie spielen diese zusammen?
  • Wie schaffen wir es mit Komplexität umzugehen – wollen wir das überhaupt oder müssen wir sogar?

Das sind die Fragen, die mich beschäftigten und die ich in diesem Beitrag beleuchten möchte.

Individualisierung – ein Prozess, um die Möglichkeiten und Freiheiten für den Einzelnen auszuweiten

Das Zukunftsinstitut hat Individualisierung als einen der Megatrends identifiziert. Dieser Megatrend wirkt weltweit und führt zu einer Differenzierung von Lebenskonzepten, Karrieren und Marktnischen. Als Individualisierung versteht das Zukunftsinstitut den Prozess, den Freiheitsraum und die Möglichkeiten für den Einzelnen auszuweiten. Normgebende Institutionen wie die Politik oder die Kirche verlieren an Autorität und legen die Antwort auf die Frage, welche Lebensweise die richtige ist, in die Verantwortung des Einzelnen.

Individualität bedeutet die Freiheit zur Wahl. Selbstbestimmt zu entscheiden, wie und wo man lebt, welchen Beruf man ergreift oder welche Form der Sexualität praktiziert wird. Die Bedeutung, die Menschen dem Wert der Individualität beimessen, ist in den letzten Jahren immer größer geworden. Der Grund scheint im existenziellen Wesen des Menschen zu liegen, nach Autonomie und Freiheit zu streben.

Mit den materiellen Möglichkeiten eröffneten sich neue Optionen in der privaten Lebensführung, des Konsums, der Mediennutzung und vieler anderer Betätigungsfelder:

  • Die „für alle geltenden Regeln“ schwinden.
  • Die im Industriezeitalter gängige „Normbiografie“ mit ihrem streng linearen Ablauf von Jugend, Erwerbs-/Familienphase und Ruhestand verliert ihre Gültigkeit.
  • Mehrere Ausbildungen, Jobwechsel, Selbständigkeit – nicht mehr „ich schaff‘ bei […], weil mein Vater/Großvater… auch schon dort gearbeitet haben“
  • Hohe soziale Anpassungsfähigkeit, schnelles Zurechtfinden in veränderten Umwelten, fehlende Bindungssicherheit, mangelnde Konfliktfähigkeit/Konfliktsouveränität

Es verändern sich Wertesysteme, Konsummuster und die Alltagskultur.

Die Welt tendiert zur Komplexität (Harry Gatterer, Zukunftsinstitut)

Und während sich die Individualisierung auf das menschliche Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit bezieht, so entdecken wir die Komplexität in den Möglichkeiten, die sich technisch, gesellschaftlich und sozial aus diesem Prozess des Strebens nach Freiraum und Möglichkeiten ergeben:

  • Die industrielle Fertigung verlagert sich auf Individuen: z.B. durch Ausdrucken von Gegenständen mittels 3D-Drucker. Es entwickeln sich kleine Produktionsstätten, in denen von Alltagsgütern des täglichen Bedarfs bis zu Hightech-Produkten fast alles dezentral produziert und repariert werden kann, sog. FabLabs (offene „Werkstatt“, in der Mitglieder mithilfe von computergesteuerten Maschinen mehr oder minder komplexe Objekte produzieren können).
  • Persönliche Daten im Internet der Dinge sind das „Gold der Gegenwart“. Es geht darum, aus den individuellen Verhaltensweisen der Einzelnen neue Muster zu erkennen, die dann in neue, sehr viel spezifischere Angebote für jeden Menschen münden sollen.

Mit den wachsenden Möglichkeiten, wie sich Menschen in ihrer Persönlichkeit ausdrücken und erleben können, wächst auch die Bedeutung, die der Individualität beigemessen wird. Je mehr „Ich“ in einer Ware steckt, desto größer ist die Identifikation des Nutzers – und desto weniger spielen Preisargumente eine Rolle.

Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert Komplexität als

Gesamtheit aller voneinander abhängiger Merkmale und Elemente, die in einem vielfältigen, aber ganzheitlichen Beziehungsgefüge (System) stehen. Unter Komplexität wird die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten der Elemente und die Veränderlichkeit der Wirkungsverläufe verstanden.

Komplexität hat sich von selbst entwickelt

Doch wie ist das nun mit der Henne? Sind es vielleicht doch die komplexen Systeme oder Lebenswelten, die Individualisierung schaffen bzw. ermöglichen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich der Blick auf die Entwicklung von Komplexität und die Systemtheorie.

Entwicklung von Komplexität

Komplexe Systeme haben laut Wikipedia strukturelle, funktionelle und dynamische Eigenschaften. Die dynamischen Eigenschaften manifestieren sich vor allem in den Prozessen, die zu ihrer Entstehung führen. Diese Prozesse sind in der Regel emergent(*) und selbstorganisiert. Jeder emergente Prozess erzeugt aus Elementen, die untereinander Wechselwirkungen haben, Systeme mit höherer Komplexität. Emergente Prozesse sind meist nichtlinear. Ihr Ablauf ist durch Chaos bestimmt. Die Prozesse werden von den Bedingungen in ihrer Umgebung beeinflusst. Da sich die Natur und die Gesellschaft im Laufe der Zeit in aufeinanderfolgenden und hierarchisch aufeinander aufbauenden emergenten Prozessen entwickelt haben, hat sich die seit dem hypothetischen Urknall ständig wachsende Komplexität der Welt von selbst entwickelt.

(*)Emergenz, lateinisch emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“, bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen. Emergente Phänomene finden sich in der Physik, Chemie, Biologie, Mathematik, Psychologie oder Soziologie:

  • Biologie: Organismen bestehen beispielsweise aus Organen, diese aus Zellen, diese wiederum aus Organellen und diese sind wiederum aus Makromolekülen zusammengesetzt. Ein Proteinmolekül besitzt Eigenschaften, die keines der Atome aufweist, aus welchen es zusammengesetzt ist.
  • Neurologie: Das Gehirn besteht aus vielen, oberflächlich gesehen ähnlichen Elementen, den Nervenzellen, und weiteren Zellen, deren Funktion teilweise noch wenig erforscht ist. Aus dem Zusammenspiel dieser Bausteine emergieren Aktivitätsmuster, die die eigentliche Gehirntätigkeit ausmachen.
  • Soziologie: Größe, Form/Gestalt, Richtung, Geschwindigkeit und Wellenbewegungen in Schwärmen sind emergent gegenüber dem Individuum, z.B. bei Fischen oder Vögeln. Änderungen oder Bewegungen des Schwarms laufen z. T. schneller ab, als es das Reaktionsvermögen des einzelnen Fisches oder Vogels isoliert zulassen würde.
  • Denken und Kommunikation: Menschliche Gedankeninhalte (Ideen, Konzepte, Theorien) besitzen Emergenzeigenschaften gegenüber den neurologischen Prozessen und psychischen Akten, aus denen sie entstehen. Ebenso sind Emergenzeffekte bei der Kommunikation von Gedankeninhalten zu erkennen, denn die Eigenschaften von Informationen lassen sich nicht linear aus den zugrunde liegenden grammatikalischen Strukturen (Buchstabe, Wort, Syntax) ableiten.

Komplexe Systeme

Ein komplexes System ist somit ein System, dessen Eigenschaften sich nicht vollständig aus den Eigenschaften der Komponenten des Systems erklären lassen. Komplexe Systeme bestehen aus einer Vielzahl von miteinander verbundenen und interagierenden Teilen. Sie entstehen überwiegend durch Prozesse der spontanen Selbstorganisation und sind meist einer Theorie auf der Basis bekannter mathematischer Funktionen nicht zugänglich.

Die Komplexität von Organisationen

Die Komplexität von Organisationen steigt nach Auffassung der Organisationstheorie mit dem Ausmaß ihrer funktionalen Differenzierung durch Arbeitsteilung, Wachstum, Spezialisierung, Professionalisierung und Dezentralisierung. Damit wächst die Vielfalt der in der Organisation vorhandenen Informationen und Handlungsprogramme zur Handhabung von Ereignissen der äußeren (z. B. Märkte, Politik) und innerorganisatorischen Umwelt (Subjektivität der Mitarbeiter). Unkontrollierte Komplexität in einer Organisation führt zu Effizienzmängeln, hemmt Innovationen, bindet Ressourcen in unproduktiven bürokratischen Prozessen und steigert die Kosten.

Wir müssen Komplexität lieben lernen (Fredmund Malik)

Und was bedeutet dies nun für uns und unser Leben? Wie können wir im komplexen System unseres Lebens Freiheit und Selbstverantwortung leben? Wie können wir einen guten Umgang mit Komplexität finden? Fredmund Malik sagt: „Wir müssen Komplexität lieben lernen, denn Komplexität ist die Ressource für Intelligenz, Information und Kommunikation.“

  • Selbstorganisation
  • Lernen in Netzwerken
  • Co-Working
  • Einstellung = Bereitschaft, aus festen Denkschemata herauszugehen und zu gestalten
  • Vernetzung innerhalb und außerhalb von Organisationen durch Nutzung sozialer Netzwerke, wie z.B. Working Out Loud, LernOs Circle, LinkedIn, XING etc.
  • Experimentieren, eingefahrene Wege verlassen, Neues ausprobieren, Muster brechen (in ungewissen Situationen versagen Planung, Steuerung, Kontrolle)
  • Achtsamkeit: Beobachten und lernen, Implizites und Unsichtbares wahrzunehmen
    Achtsamkeit ist der wichtigste Gegentrend zur permanenten Reizüberflutung des digitalen Zeitalters und der medial gemachten Erregungskultur. Immer häufiger hinterfragen wir die Art, wie wir mit uns und unserer real-digitalen Umwelt umgehen. Achtsamkeit ist mehr als ein Lifestyle-Thema, es ist die Kunst, das Hier und Jetzt nicht aus den Augen zu verlieren, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und Werte zu leben.

Diese Aspekte helfen uns, die Komplexität als Teil unseres Lebens zu begreifen.

Und die Frage nach Henne oder Ei wird wohl auch in diesem Fall unbeantwortet bleiben…

FRAGEN?

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